Kardinal Walter Kasper

Kardinal Walter Kasper

Ein gutes Lehrjahr - Erinnerungen an Herz Jesu 1957/58.

Die erste Vikarsstelle sei so etwas wie die erste Liebe. So sagt man, und oft ist das auch wahr. Jedenfalls mir ging es so, als ich 1957 im Dom zu Rottenburg durch Bischof Carl Joseph Leiprecht zum Priester geweiht wurde. Das waren noch andere Zeiten. Von einem Konzil haben wir noch nicht einmal geträumt, und bei der Weihe waren wir in unserem Kurs 40 Mann. Davon kann heute kein deutscher Bischof auch nur träumen. Nach der Primiz kam dann die Ernennung als Vikar nach Stuttgart Herz Jesu. Das war wie ein Fingerzeug der Vorsehung. Denn als Bub habe ich sonntags „Pfarrerles“ gespielt, und der Kinderaltar war ein Herz-Jesu-Altar.  

Kein Vikar hatte damals ein Auto; das Gehalt war bei freier Logie im Pfarrhaus grade mal 100 DM im Monat. Als ich mir dann während des Vikarsjahrs stolz einen Motorroller Marke Lambretta kaufte, mussten mir die Eltern kräftig unter die Arme greifen. Also kam ich per Bahn am Stuttgarter Hauptbahnhof an. Pfarrer Dr. Ernst Hofmann holte mich freundlich am Bahnsteig ab. Er galt vielen als strenger „Vikarstöter“. Doch so haben ihn weder mein Vorgänger als Vikar, der spätere Generalvikar Eberhard Mühlbacher, noch ich selbst erlebt. Streng ja, aber korrekt und gerecht und vor allem darum besorgt, den jungen Neuen sorgfältig in die Pastoral einzuführen. So war das Jahr in Herz Jesu ein gutes Lehrjahr und Pfarrer Hofmann war später stolz darauf, dass aus dem Vikar etwas geworden ist. 

Die im frühchristlichen Basilikastil erbaute, 1921 von Bischof Paul Wilhelm Keppler eingeweihte, weithin sichtbare Herz-Jesu-Kirche machte einen gewaltigen Eindruck. Damals war der Pfarrer zusammen mit zwei Vikaren und einer teilzeitbeschäftigten stets freundlichen Pfarrsekretärin nur für Herz Jesu zuständig. Im Pfarrhaus bezog ich ein bescheidenes Eineinhalb-Zimmer Appartement. Die Mahlzeiten waren gemeinsame: Pfarrer, zwei Vikare, die ältere Tante, die Haushälterin. Als mir Pfarrer Hofmann den Schlüssel übergab, sagte er: „Der macht bis 10 Uhr abends auf, bis 11 Uhr kommt die Haushälterin, danach komme ich selber.“ Das war eine klare Ansage, doch die patriarchalische Ordnung wurde damals mehr oder weniger selbstverständlich hingenommen.

Pfarrer Hofmann war ein gebildeter Mann. Er gehörte dem intellektuell aufgeschlossenen Zirkel von Stuttgarter Pfarrern zuweilen auch kritischen Köpfen wie Bernhard Hanssler (St. Georg), Hermann Breucha (Degerloch), Anton Weber (St. Antonius) an. Pfarrer Hofmann galt als scharfsinnig, manchmal auch als etwas spitzfindig; manche nannten ihn humorvoll „Dr. specificus“. Aber er war einer der bedeutenden Stuttgarter Pfarrer, die sich schon lange vor dem Konzil um eine biblisch ausgerichtete Verkündigung, um liturgische, katechetische und pastorale Erneuerung und um Erwachsenenbildung bemühten. 

Pfarrer Hofmanns liturgische Erneuerungen kamen in der Pfarrei zwar nicht bei allen gleich gut an, doch beirren ließ er sich nicht. Er war ausgesprochen kunstsinnig, hatte ein feines Sprachempfinden, und arbeitete mit der Dichterin und Benediktinerin Silja Walter zusammen. Bei der Neuausgabe des „Gotteslobs“ hat er durch etwas modernere Umdichtung mancher Lieder mitgewirkt („Sankt Martin, dir ist anvertraut“ Nr. 911). Für die gelungene Innenrestauration der Herz-Jesu-Kirche konnte er einen der berühmten Maler, vor allem Glasmaler des 20. Jahrhunderts, Wilhelm Geyer gewinnen. Ich erinnere mich noch an die Vorgespräche und bin noch immer etwas stolz, dass ich damals den Vorschlag machen durfte, das monumentale Bild im Chor unter das Thema zu stellen: „Sie werden auf den schauen, den sie durchbohrt haben“ 
(Joh 19,37).

Und was waren die Aufgaben des jungen Vikars? Jeden Morgen hat er die Frühmesse um 6.30 Uhr, damals selbstverständlich auf Lateinisch und in der alten Zelebrationsrichtung am damaligen Hochalter, gefeiert. Dann folgte Religionsunterricht an der Gablenberger Schule, am Sonntag im Drei-Wochenrhythmus die Predigt, damals noch von der Kanzel und in allen vier Gottesdiensten auswendig vorgetragen. Am Samstag, Sonntag und vor den großen Feiertagen galt es, viele Stunden im Beichtstuhl zu sitzen. Gerade diese Erfahrung möchte ich nicht missen; sie war für mich wie ein Zweitstudium nicht in theoretischer sondern in praktischer Theologie und pastoraler Erfahrung. Beim ersten Mal begleitete mich Pfarrer Hofmann an den Beichtstuhl; wir verrichteten ein kurzes persönliches Gebet und er wünschte mir Gottes Segen. Eine schöne Geste, die ich nicht vergessen kann. 

Dazu kamen jeweils am Herz-Jesu-Freitag Krankenbesuche und Krankenkommunion. Abends galt es „Klinken zu putzen“ d. h. Hausbesuche bei den Neuzugezogenen zu machen und sie - mit unterschiedlichem Erfolg - in der Pfarrei willkommen zu heißen. Auch das war eine lehrreiche Erfahrung. Am Sonntagnachmittag konnte ich oft schöne Stunden mit den Familien und den Kindern auf der Marienburg verbringen. In der Jugendarbeit war ich für die männliche Jugend, besonders für die Georgs-Pfadfinder zuständig. Dabei merkte ich, dass vieles nicht mehr ganz so gut lief, wie ich es in meiner Gymnasialzeit nach 1945 erlebt hatte. Bereits vor dem Konzil begann es etwas zu bröckeln, und die Wende zu einem in der Zwischenzeit sehr gewandelten Katholizismus deutete sich schon damals an.

Nach einem Jahr kam ein Erlass von Rottenburg. Ich sollte Repetent am Wilhelmstift in Tübingen werden. Solche Erlasse waren damals an den Pfarrer adressiert mit der Bitte, dem Vikar davon in geeigneter Form Kenntnis zu geben. Das geschah bei einem gemeinsamen Mittagessen im Pfarrhaus. Also packte ich die wenigen Sachen, die ich hatte, in einen Koffer, schnallte ihn auf die Lambretta und fuhr an einem wunderschönen Maimorgen - die heutige Schnellstraße gab es noch nicht - durch den kurvenreichen Schönbuch nach Tübingen. Ein neuer, 30 Jahre dauernder akademischer Lebensabschnitt hatte begonnen. Ich wollte zwar Pfarrer werden, doch das habe ich nie geschafft. Der liebe Gott und der Bischof haben es anders geplant. Umso mehr bin ich dafür dankbar, dass sie mich in Stuttgart Herz Jesu wenigstens ein Jahr in der Pfarrseelsorge gelassen haben. Es waren gute Lehrjahre, für die ich bis heute vielen Menschen der Pfarrei von Herzen dankbar bin. 

Kardinal Walter Kasper

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